Doppelstegreif: Navelli - unbewohnt lebendig

  Illustration eines Sonnenuntergangs in Navelli © städtebau  

Sommersemester 2023

Dauer: ein Semester

Inhalt

Nicht nur Pandemien und Kriege machen kein Halt vor Europa, auch Naturkatastrophen häufen sich in den letzten Jahren. Diverse Regionen der Erde wurden in den letzten Jahren von Hochwasserkatastrophen getroffen, sei es in Pakistan oder direkt vor der Haustür, im Ahrtal.
Selbst wenn es solche Naturkatastrophen schon immer gegeben hat, so wird deutlich, dass diese exorbitante Zunahme sich nicht von alleine eindämmen lässt.  

Grund dafür sind die durch den Klimawandel herbeigeführten Extremwetterereignisse. (Hitze, Sturm, Starkregen) 

Einige Gebiete auf der Welt werden allerdings bereits seit Jahrhunderten zyklenartig von den immer gleichen Katastrophen heimgesucht. So leben Menschen im Schatten der Vulkane, bewusst mit dem Risiko, beispielsweise auf Java, Island oder auch in Italien. Oder in Erbebenregionen auf Haiti, in Südamerika oder - wie wir kürzlich erneut erfahren mussten - in der Türkei.

Doch wie lebt es sich mit dem Wissen immer wieder von den gleichen, bekannten Naturereignissen unaufhaltbar heimgesucht zu werden?

Diese Frage bewegt uns konkret am Beispiel der Region Abruzzen, in Zentralitalien, welche auf Grund ihrer geologischen Lage immer wieder von Erdbeben erschüttert wird. In dem dortigen Gebirge liegt die Provinz L’Aquila mit ihrer gleichnamigen Hauptstadt. Im Schatten des höchsten Berges Italiens außerhalb der Alpen, dem Gran Sasso (2912m). Zwei tektonische Erdplatten treffen im Nord-Süd Verlauf in Italien aufeinander und ließen die Abruzzen entstehen. Genau diese Plattengrenze lässt die Region immer wieder durch Erdbeben erschüttern.

L’Aquila, sowie alle anderen Städte und Dörfer in der Region, lernten über die Jahre mit den Erdbeben umzugehen. Das letzte zurückliegende große Erdbeben in L’Aquila war 2009 und zerstörte ganze historische Straßenzüge. Es dauerte fast ein Jahrzehnt bis mit dem Wiederaufbau vollständig begonnen wurde. Auch wenn die Vorschriften für Neubauten zur Erdbebensicherheit mittlerweile streng sind, beziehen sich diese nicht auf die Altbauten in den historischen Städten und Dörfern beziehen. Genau diese Städte und Dörfer sind für ihre historische Substanz in der ganzen Welt bekannt und prägen das gesamte Land. 

Wie lernen Menschen mit den regelmäßigen Erschütterungen umzugehen? Wie wirkt sich dies auf Ihr alltägliches Leben aus? 

Unweit von L’Aquila liegt das von weitem sehr malerisch wirkende Dorf Navelli (vgl. Luther, 2011) an einem Hang über den einzigartigen Safranfeldern der Abruzzen. „Doch aus der Nähe wirkt die mittelalterliche Siedlung ausgestorben", so beschreibt es auch Helmut Luther für die F.A.Z. Und mit dieser Ansicht ist er nicht alleine. Das Dorf ist leergezogen von den Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt von dem mittelalterlichen Bergdorf in den Traum vom Eigenheim auf der grünen Wiese eingetauscht haben . Auf den ersten Blick wirkt es daher nur noch wie eine Kulisse, die Lebendigkeit lässt sich erst auf den zweiten Blick entdecken.

Im Rahmen des Stegreifs möchten wir vor Ort herausfinden wie die dort (noch) lebenden Menschen ihren Alltag organisieren und es schaffen, dass das Dorf nicht komplett ausstirbt. Wir werden die Menschen treffen, die vor Ort etwas bewegen, sei es z.B. in der Safrangenossenschaft oder als Hostelbetreiberin. Begleitet wird all dies von der Frage ob und mit welchen Akupunkturmaßnahmen eine Revitalisierung möglich gemacht werden könnte. 

Und doch, wenn man genauer hinblickt, lässt sich erkennen, dass dieses Dorf noch mit Leben gefüllt ist. Eine typisch italienische Bar für den morgendlichen Espresso und den abendlichen Spritz lässt sich zwischen den alten Gemäuern finden. Eine Familie ist aus der Großstadt hierhergekommen um sich ein Leben als Selbstversorgende aufzubauen – mit eigenem Restaurant. In den Räumlichkeiten des Kloster Sant’Antonio da Padua aus dem 15. Jahrhundert befindet sich heute die Unterkunft „Ostello sul Tratturo“. Ein Hinweis darauf, dass ab zu sogar Touristen hierher finden, sie kommen zum einen für die mittelalterlichen Dorfstrukturen und den Safrananbau. Der Safran aus dem Altopiano di Navelli, der Hochebene, ist in Fachkreisen schließlich für sein intensives Aroma, „welches er dem speziellen Mikroklima verdankt“(vgl. Luther 2011), bekannt. Einst verhalf der Safrananbau Navelli zu Reichtum, denn Safran ist bis heute das teuerste Gewürz der Welt. (2kg Safran kosten bis zu 120.000 €) Jedes Jahr im Oktober blühen für ein paar Tage die Krokusfelder, für diese paar Tage kommen alle Safranbauern zusammen und helfen sich gegenseitig bei der mühsamen Ernte. In den 70er Jahren, als der Safranpreis einbrach gründeten 46 Landwirt*innen eine Genossenschaft, um ihr finanzielles Überleben zu sichern, seit 2005 ist darf sich der Safran aus dieser Genossenschaft als „Lo Zaffranero dell’Aquila D.O.P“ bezeichnen und ist somit geschützt und spätestens seitdem sehr bekannt. Der Safrananbau und die Weiterverarbeitung bringt einige lokale Bräuche und regionale Rezepte mit sich, wodurch die Zugehörigkeit zu dem Ort stark gefördert wird.

So identifizieren sich einst ausgezogenen Bewohner*innen sich immer noch mit dem (fast) leergezogenen Dorf.Ist es dort oben mit Blick auf die Safranfelder auch noch so schön, aber wieso wollte man dort trotzdem nicht mehr wohnen?Wie behandelt man ein Dorf in einer solchen Situation, welches sich am besten mit den Gegensätzen morbide und lebendig beschreiben lässt?

Gibt es eine Möglichkeit ihm wieder Leben einzuhauchen? 

Abschließend lässt es sich wohl nicht besser beschreibe, als mit den Worten „schöne und elende Stadt“ des Dichters Pier Paolo Pasolini, welche sich auf einer Tafel zwischen den leeren Gebäuden finden lässt.

Exkursionszeitraum            

3. bis 9. Juli 2023

Einführungsveranstaltung     

24. April 2023

M1 folgt im Wintersemester 2023/24

 

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